Anna Radtke sitzt im Elektrorollstuhl − Mit ihrem Partner hat sie ihre Reisebegeisterung zum Beruf gemacht
von Julia Ried
Eine Bürotür, die sich nicht automatisch für sie öffnet. Ein Schreibtisch, den sie mit ihrem Elektrorollstuhl nicht unterfahren kann oder ein Telefonhörer, den sie nur mit Mühe heben kann, weil ihre Arme wegen ihrer angeborenen Muskelerkrankung zu schwach sind dafür. Diese und viele andere Hürden im Berufsleben kennt Anna Radtke, Absolventin der Wirtschaftsschule, ausgebildete Fremdsprachenkorrespondentin und Veranstaltungskauffrau. "Da musste ich halt gucken, wie ich das organisiere", sagt die 25-Jährige – mit den perfekt gefönten dunkelblonden, schulterlangen Haaren und dem dezenten Make-up auch äußerlich ganz Geschäftsfrau.
Nun muss sie nicht mehr so viel organisieren. An ihrem neuen Arbeitsplatz stehen alle Türen offen für sie. Falls einmal nicht, sorgt ihr Partner Thomas Tigges (42) dafür. Er reicht ihr das Telefon, ein leichtes Modell. Und am Laptop kann sie auch am Esstisch tippen. Denn ihr neues Büro ist ihre Wohnung in Haidenhof. Von dort arbeiten Anna Radtke und ihr Lebensgefährte seit kurzem für ihr eigenes Unternehmen, ein Internetportal für barrierefreies Reisen. Es soll Menschen mit Handicaps möglichst viele Antworten geben, die sie brauchen, um Freizeit und Urlaub zu planen: vom Standort der Rampe am Passauer Dom bis zur Breite der Tür in den Zimmern der Hoteliers, die ihre Angebote auf der Homepage präsentieren.
Das Reisen ist heute die liebste Freizeitbeschäftigung des Paars. Bis vor zwei Jahren war es auch Notwendigkeit. Bis Tigges 2011 mit seinem Sohn nach Passau zieht, führt es dreieinhalb Jahre eine Fernbeziehung zwischen Tigges’ Wohnort Dortmund und Thyrnau, wo Anna Radtke bei ihren Eltern lebt. Kennengelernt haben sie sich im Internet, im Chat eines E-Mail-Anbieters. Anna Radtke, die zu der Zeit kurz vor dem Abschluss der Fremdsprachenschule steht, und Thomas Tigges, Stempelhersteller im Familienbetrieb und alleinerziehender Vater, verstehen sich auf Anhieb. Als Anna Radtke am Telefon Thomas Tigges erzählt, dass sie im Elektrorollstuhl sitzt, sagt der nur: "Ich weiß." Er hatte beim Googeln ein Bild von ihr auf der Internetseite ihrer ehemaligen Schule, der K-Schule für Körperbehinderte in Passau, gefunden.
An ihrem Verhältnis ändert das nichts, auch weil Tigges zunächst nicht über eine Beziehung nachdenkt. "Ich bin ja nicht hergegangen und habe gesagt, ich gucke mir eine potenzielle Partnerin an", erklärt er so trocken, dass er damit jedes Klischee vom Ruhrpottler erfüllt. "Und dann kanntest Du mich ja schon", sagt Anna Radtke mit einem verschmitzten Lächeln.
Anfang 2012 ziehen Anna Radtke und Thomas Tigges zusammen. Er hat eine Umschulung zum Bürokaufmann begonnen, sie arbeitet Teilzeit bei einer Agentur für Sportfotografie. Er macht alles, was unter die sieben mal vier Stunden Pflege fällt, die Anna Radtke nach Einschätzung des Medizinischen Diensts in der Woche braucht, sie übernimmt die Organisation des Haushalts. Im Sommer liegt eines Tages ihre Kündigung im Briefkasten. Der Betrieb macht dicht. Doch der Gedanke "Warum machst du nicht dein Hobby zum Beruf?" ist schon so lange in ihrem Kopf, dass sie gar nicht erst auf Stellensuche geht. Wenige Wochen später melden sie und ihr Partner ihr Unternehmen "www.holicap.de" an.
Es war die richtige Entscheidung, sagen sie heute. Sie haben festgestellt, dass sie sich auch beruflich gut ergänzen: "Diesen Job könnten wir beide nicht alleine machen", sagt Anna Radtke.
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